Festpredigt am Allerheiligenfest

gehalten in St. M. Loreto am 1.11.1977

 

Allerheiligen und Allerseelen sind uns von jeher liebe Gedenktage, die uns an jene erinnern, die uns vorausgegangen sind; und zwar gedenken wir an diesen beiden Tagen

  1. derer, die Vollendete waren, und
  2. derer, die vollendet haben.

Das soll kein bloßes Wortspiel sein, sondern meint die zwei sehr verschiedenen Gruppen von Menschen: Es gibt nämlich wirklich unter jenen, die uns vorausgegangen sind, solche, die Vollendete waren, solche aber auch, die die Erdenpilgerfahrt vollendet haben, ohne im Tod wirklich vollendet gewesen zu sein.

Sehen wir uns diese beiden Menschengruppen, denen heute und morgen unser Gedenken gilt, näher an:

1. Wir gedenken derer, die Vollendete waren: Wir denken heute, am Allerheiligentag, an die Heiligen! Wir meinen dabei heute nicht nur die großen Heiligen, denen die Kirche im Laufe des Kirchenjahres in ihrer Liturgie besondere Gedenktage, besondere Festtage geweiht hat; wir meinen heute dabei vor allem die vielen, vielen namenlosen Heiligen, für die das Jahr viel zu wenig Tage hat, um ihr Fest zu feiern, denn die Mutter Kirche ist eine so fruchtbare Mutter, die zu allen Zeiten, in allen Völkern, Nationen und Rassen, in allen Ständen und Altersstufen Heilige hervorgebracht hat. Die Kirche bewirkte das durch die Heiligkeit ihrer Lehre und durch die Heiligungsmittel, die sie den Menschen an die Hand gibt, besonders in den hl. Sakramenten und in den aszetischen und spirituellen Ratschlägen, die sich in allen Jahrhunderten und immer wieder bestens bewährt haben. Wie viele Menschen aller Jahrhunderte sind doch durch die Erzieherweisheit der Mutter Kirche zu vollendeten Menschen herangereift, vollendet im Heldengeist der echten Nachfolge Christi, vollendet im Heldentum des Kreuzesopfers Christi, vollendet im Heldenlohn der Auferstehungsherrlichkeit Jesu Christi.

Ja, so müssen wir die Heiligen unserer Kirche, die bei allem Menschlichen und allzu Menschlichen ja doch eine heilige Kirche und eine Kirche der Heiligen, eine Gemeinschaft der Heiligen, ist, sehen: Die Heiligen sind Vollendete, sie sind Menschen der Vollendung!

 

a) Sie waren vollendet im Heldengeist echter Nachfolge Christi. Der Geist Christi hat sie erfüllt, vorangetrieben und immer wieder geprägt. Sie haben ernst gemacht mit der Mahnung Christi: „Lernt von Mir, denn Ich bin sanft und demütig von Herzen!“ Die Heiligen haben ernst gemacht mit der Aufforderung Christi: „Kommt! Folgt Mir nach!“ Und sie haben dann, um den Fußspuren Christi exakt zu folgen, immer wieder an sich die Frage gestellt: was würde Christus jetzt, in dieser Lage, in dieser Situation tun? Wie würde Er sich jetzt verhalten? Und je nach der Antwort auf diese Fragen fiel dann ihre Entscheidung aus, immer mit dem Blick auf Christus! Ihm nach! Und nach seinen Direktiven, wie er sie vor allem in der Bergpredigt gegeben hat. So haben sie dann von Ihm gelernt: Reinheit, Treue, Liebe, Güte, Barmherzigkeit, Demut, Friedfertigkeit, mit einem Wort: von Ihm haben sie all jene Tugenden gelernt, die uns im Evangelium des Allerheiligenfestes so machtvoll erklingen: Selig ..., selig ..., selig ...

Die Heiligen, diese vollendeten Menschen, die im Heldengeist der Nachfolge Christi Vollendete wurden, sagen uns, dass auch wir nach dieser Vollendung streben und ringen sollen, denn wir alle, die wir Christi Namen tragen, sind zur Heiligkeit, zur sittlichen Vollendung und Vollkommenheit berufen und aufgefordert von dem, der gesagt hat: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“ In einer Zeit, in der wir in furchtbarer Weise erlebt haben und immer noch erleben, wie die Menschen in ihrer Leidenschaft, in ihrem Hass, in ihrem Irrtum, in ihrer Süchtigkeit und Verfallenheit an das Irdische, an das Vergängliche, gesunken sind bis zur Unmenschlichkeit, in der sie einander morden und hinschlachten, da ruft uns die Kirche zu: Ihr müsst einfach anders leben. Ihr dürft euch nicht gehen, ihr dürft euch nicht sinken lassen, ihr müsst euch aufrichten zu jenem herrlichen Ideal menschlicher Vollendung, wie es von den Heiligen verwirklicht worden ist! Erfüllt auch ihr euch mit dem Heldengeist Jesu Christi, mit dem Geist der Wahrhaftigkeit, der Reinheit, der Selbstlosigkeit, der Liebe! Nur so seid ihr sicher, dass ihr nicht zur Unmenschlichkeit abgleitet, sondern zur Höhe gelangt, zur Heiligkeit!

b) Die Heiligen waren vollendete Menschen, vollendet nicht nur im Heldengeist echter Nachfolge Christi, sondern auch vollendet im Heldenmut des Kreuzesopfers Christi! Christus fordert dort, wo Er zu seiner Nachfolge aufruft, den Heldenmut der Bereitschaft zu Opfer und Kreuz, wie er es uns vorgemacht hat! „Wer nicht täglich sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, kann mein Jünger nicht sein!“ So sagt der Herr. Die Heiligen haben das beherzigt. Sie sind den Opfern des Verzichtes, der Überwindung, der Selbstbeherrschung, der Abtötung und – wenn es sein musste, dem Opfer der Selbsthingabe und Ganzhingabe im Martyrium – nicht aus dem Wege gegangen. Die Heiligen, an die wir bewundernd denken, die bekannten Heiligen und die noch viel größere Zahl der unbekannten Heiligen, der „Werktagsheiligen“, wie man sie genannt hat. Sie haben in ihrem Leben und Sterben den Mut zum Opfer in der vollen, restlosen, treuen Nachfolge Christi aufgebracht. Diese Heiligen rufen uns heute zu: Habt doch den Mut und wagt es! Ein Augustinus, der in seiner Jugend in Sünde gesunken und der Leidenschaft ergeben war, hörte auf diesen Ruf der Heiligen und sagte sich nach seiner Taufe und Bekehrung: „Wenn es diese und jene gekonnt haben, warum sollte ich es mit der Gnade Gottes nicht auch können?“ Und er wagte es, er brachte den Heldenmut zum Opfer, zum Verzicht auf und rang sich aus dem Schmutz und Sumpf des Lasters und der Leidenschaft empor zu vollendeter Heiligkeit.

c) Die Heiligen stehen als Vollendete vor uns nicht bloß im Heldengeist der Nachfolge Christi und im heldenmütigen Ja zu Opfer und Kreuz, sie stehen vor uns auch im Heldenlohn der himmlischen Seligkeit und Auferstehungsherrlichkeit, die ihnen schon zuteil geworden ist.

Die Auferstehungsherrlichkeit Christi im Himmel, die ewige Glückseligkeit, die beseligende Anschauung Gottes in der ewigen Heimat ist der Heldenlohn, der den Heiligen zuteil geworden ist. Sie erkennen dabei, wie nichtig und klein die Opfer, Leiden, Drangsale auf Erden gewesen sind im Vergleich zur Herrlichkeit, die ihnen geschenkt worden ist, die Herrlichkeit und Seligkeit in der ewigen Heimat, von der der Apostel Paulus, der schon auf Erden einen Blick hineintun durfte, sagt: „Kein Auge hat es gesehen und kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz ist es gedrungen, was Gott denen bereitet hat, die Ihn lieben!“ So entspricht es der Verheißung Christi, der zu allen gesagt hat, die Ihm mutig nachfolgen, auch bis hinein ins Opfer und in die Verfolgung: „Freuet euch und jubelt, denn euer Lohn ist groß im Himmel!“

Diesen großen Lohn im Himmel vor Augen, rufen uns die Heiligen heute zu: Ihr Erdenpilger, vergesst es doch nicht: es lohnt sich wirklich, Held zu sein im Geiste der Nachfolge Christi, im Opfermut des Kreuzesopfers Christi und mit dem Blick auf den verheißenen Lohn der Auferstehungsherrlichkeit Christi! Vergesst es nicht, ein Heldenlohn wartet auch auf euch, so wie er auf uns gewartet hat und uns schon zuteil geworden ist vom König der ewigen Herrlichkeit!

Sollen wir den Ruf der Heiligen überhören? Sie rufen uns mit ihrem Beispiel, sie rufen uns mit ihrer Fürsprache! Hören wir auf diesen Ruf der Heiligen, den sie in Wort und Tat an uns richten! Bringen wir den Mut dazu auf, damit wir auch einmal als vollendete Menschen, als Heilige vor das Antlitz des dreifaltigen, ewigen Gottes hintreten können, um den verheißenen Lohn zu empfangen.

 

2. Wir denken an diesen Tagen von Allerheiligen und Allerseelen aber nicht nur an jene Menschen, die unter tapferem Ringen und Streben zuletzt wahrhaft Vollendete waren in Tugendgeist und Opfermut und Heiligkeit, wir denken im ganzen Allerseelenmonat auch an jene vielen, die noch nicht Vollendete waren, aber die schon ihren kurzen Erdenlebenslauf und ihr Tagewerk vollendet haben, weil für sie bereits die Nacht angebrochen ist, in der niemand mehr wirken kann.

So manche haben in unserer Stadt, im Kreis unserer Verwandten und Bekannten im zu Ende gehenden Jahr ihren Erdenlauf vollendet, so manche waren darunter, die noch gerne weitergelebt und weitergeschafft hätten, wohl auch deshalb, weil sie spürten, noch nicht vollendet zu sein! Und über den Kreis unserer Verwandten und Bekannten in diesem Jahr und in den letzten Jahren Abberufenen hinaus denken wir an die vielen Toten, die in unserem ganzen Land abberufen wurden, vielleicht plötzlich, vielleicht ganz unvorbereitet. Wie viele waren wohl darunter – etwa unter den Verkehrstoten, die nach menschlichem Ermessen noch lange nicht am Ziel ihrer Wünsche und Sehnsüchte, erst recht nicht am Ziel ihrer Vollendung angekommen waren, die vielleicht erst am Anfang ihres Lebens standen oder in der Blüte ihres Lebens dahingerafft wurden. An so viele Gräber denken wir morgen, Gräber in der Heimat und Gräber in der Ferne. Je älter man wird, umso wehmütiger wird man beim Gedanken an die vielen, die uns vorausgegangen sind ...

Und doch trauern wir Christen nicht wie Heiden, die keine Hoffnung haben. Wir wissen vom Glauben her, dass der Tod, der Verfall des Leibes in Staub und Asche nicht das Letzte ist. Das Mahnwort am Aschermittwoch: „Gedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zu Staub werden wirst!“ könnte allzu leicht missverstanden werden, als ob mit dem Tod alles aus sei und vom Menschen nichts, gar nichts übrig bliebe als nur ein Häuflein Asche, die im Winde verweht. Der Allerseelenmonat ruft uns mit einer Erinnerung an die Vergänglichkeit zu: Gedenke Mensch, dass du eine unsterbliche Seele hast, die zu ewigem Glück in der ewigen Heimat berufen ist! Nicht der Tod setzt den Schlußstein unseres Menschenlebens, sondern der ewige Gott, der uns zu ewiger Freude und ewigem Glück im Himmel am Ende ohne Ende berufen hat, wie es der große Augustinus einmal formuliert hat, der dabei wusste um die Unruhe im Menschenherzen, bis es die Ruhe findet in Gott. Da findet der Mensch dann über die Vollendung seines Erdenlaufs hinaus seine eigentliche Vollendung.

Wenn wir an den Gräbern unserer Lieben stehen, dann tun wir es im gläubigen Wissen um die eigentliche Vollendung des Menschen, die jenseits der Todeslinie liegt und die wir im Glaubensbekenntnis aussprechen, wenn wir dabei die Auferstehung der Toten und das ewige Leben bekennen. Wir wissen, dass das Ende des Menschen nicht eine Handvoll Staub ist, sondern die Krone des ewigen Lebens, die Gott denen aufsetzt, die im Leben gerungen und gekämpft, gelitten und gestrebt haben im Glauben, in der Hoffnung, in der Liebe ...

Wie gerne haben wir in unserer Jugend das Wanderlied gesungen: „Weit sind die Wege, weit ist die Fahrt, Mühsal und Kampf sind uns nimmer erspart, lockende Ferne ruft immer zu, aber das Ziel aller Fahrten, Herr, das bist Du!“