4. Fastensonntag

gehalten in St. M. Loreto am 29.März 1981

 

Das heutige vielsagende Evangelium von der Heilung des Blindgeborenen durch unseren Herrn Jesus Christus muss man aus der Liturgie der frühchristlichen Kirche verstehen: Wir stehen in der Mitte der Fastenzeit. Dieser Termin war von besonderer Bedeutung in der Vorbereitung der Katechumenen auf die hl. Taufe in der Osternacht. Es wurde ihnen zum ersten Mal das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis und die Anfänge der 4 Evangelien, also die Grundlagen des christlichen Glaubens mitgeteilt. Wenn dann im Evangelium von Mittfasten-Sonntag der Blindgeborene erscheint, der vom Heiland geheilt wurde, so war er für die Kirche der Typus, das Bild all derer, die in der Blindheit der Erbschuld der Taufgnade entgegenharrten, um durch die durch die in der Taufe mitgeteilten Gnade des Glaubens innerlich sehend zu werden. In diesem Sinn deutete auch der hl. Augustinus vor seiner Christengemeinde das heutige Evangelium. Und die Messfeier von Mittfasten fand statt in der Stationskirche S. Paolo fuori le mura in Rom, also am Grab des Völkerapostels Paulus, der selber durch die hl. Taufe in Damaskus von der körperlichen und seelischen Blindheit geheilt worden ist.

Die Apostel müssen nun am Heiland eine ganz besondere Anteilnahme an dem Los dieses von Geburt an blinden Mannes bemerkt haben. Nur so ist die Frage, die sie da an Ihn richteten, zu verstehen: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?“ Unser Herr aber sah damals mit seiner Heilandsliebe in diesem Blindgeborenen sicher einen Vertreter der gesamten in der Blindheit und Not der Sünde schmachtenden Menschheit. — Die Apostel setzten nun bei ihrer Frage, die sie an den Herrn richteten, voraus, dass immer nur Sündenschuld Ursache von Krankheit und Leid, im konkreten Fall der der Blindheit sein könne, und zwar entweder die eigene Sündenschuld oder die der Eltern. Das war alttestamentliche Auffassung, der zufolge Gott das Gute und das Böse zunächst immer schon in diesem Erdenleben belohnt und bestraft. Der Gedanke an die jenseitige Vergeltung des Guten wie des Bösen trat im Alten Bund sehr stark zurück. Auch fehlte der gesamten vorchristlichen Zeit der eigentliche Schlüssel zum Verständnis von unverschuldeten Leiden: das Geheimnis des Kreuzes Christi.

Bei der letzten großen Krankenheilung in Jerusalem hatte Jesus zu dem am Teich Bethesda geheilten Gelähmten ausdrücklich gesagt: „Siehe, du bist gesund geworden. Sündige fortan nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres widerfährt!“ (Joh 5,14) Hier war die Krankheit dieses Mannes, der 38 Jahre lang an einer schmerzlichen Lähmung litt, wirklich Strafe für Sünde gewesen. War sie es auch bei diesem Blindgeborenen? Das war die Frage der Apostel. Und sie fragten noch genauer: Hat er selbst, der Blindgebeorene, gesündigt? Oder seine Eltern? Dass sich die Sünden der Eltern an den Kindern auswirken können, wissen wir.

Aber wie soll der Blindgeborene durch eigene Sünden das verursacht haben, dass er blind geboren wurde? Wie kann denn hier überhaupt an persönliche Schuld gedacht werden? Vor Menschen gewiss nicht, wohl aber vor Gottes allsehendem Auge, für den auch die Zukunft schon Gegenwart ist. So könnte Gott Sünden des späteren Lebens mit einer solchen Strafe belegen.

Jesus aber antwortete auf die Frage der Apostel: „Nein, weder er selbst noch seine Eltern haben in diesem Fall gesündigt, vielmehr sollen die Werke Gottes an ihm (dem Blindgeborenen) offenbar werden.“

Die Antwort des göttlichen Heilands belehrt uns, dass die Blindheit nicht Folge einer Sünde war. Sie war über diesen Menschen verhängt worden, damit Gottes Gnadenwirken an ihm sich offenbaren könne. Der hl. Thomas v. A. bemerkt zu dieser Stelle: „Gott ist so gut, dass er niemals etwas Böses zuließe, wenn er nicht mächtig genug wäre, aus jedem Übel etwas Gutes entstehen zu lassen.“ Leiden muss also wirklich nicht immer nur Unglück und Verhängnis sein, es kann auch Voraussetzung für die Werke der erbarmenden, helfenden, heilenden Liebe Gottes sein. Seit das Heil der Welt in Christus erschienen ist und gerade durch Leiden die Erlösung der Menschheit vollzogen worden ist, ist Leiden für jeden Menschen, der Glied am geheimnisvollen Leib Christi ist, auch eine Gabe der Liebe Gottes, die ihn gerade durch Leiden zur Teilnahme an der ewigen Herrlichkeit Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen, ruft und bereitet. Darum sind die Leiden im Leben eines gläubigen Christen nie Letztes, an dem er in dumpfer Resignation hängen bleibt; er schaut in der Kraft seines Glaubens darüber hinaus und wartet zuversichtlich auf die Offenbarung der Liebe Gottes, für die ihn die Leiden reif und bereit machen wollen.

Die Werke Gottes, die nun an dem Blindgeborenen offenbar werden sollen, soll und will nun Jesus Christus, der menschgewordene Sohn Gottes vollbringen. Das ist überhaupt seine Aufgabe und der ganze Sinn seiner Sendung in diese Welt: Er soll den Heilswillen des himmlischen Vaters und dessen Liebe zu den Menschen durch die Zeichen und Wunder, die er wirkt, und vor allem durch das Werk der Erlösung offenbaren und den Menschen kundtun. Darum sagt der Heiland: „Ich muss die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat, solange es Tag ist. Es kommt die Nacht, da niemand mehr wirken kann.“ Und er fügt noch hinzu, um auf das Wunder der Heilung des Blindgeborenen von seiner Blindheit einstimmend hinzudeuten: „Solange Ich in der Welt bin, bin Ich das Licht der Welt.“ - Als „Licht der Welt“ will Christus nun dem Blindgeborenen sowohl das Augenlicht. als auch das Glaubenslicht schenken.

Nun heißt es im Evangelium weiter: „Nach diesen Worten spie Jesus auf die Erde, machte aus dem Speichel einen Teig, strich den Teig auf die Augen des Blindgeborenen und sprach zu ihm: Geh hin und wasche dich im Teiche Siloa!“

Die Heilung des Blindgeborenen vollführte der Herr mit einer zweifellos beabsichtigten Umständlichkeit: nicht durch ein bloßes Wort, wie Er es sicher auch gekonnt hätte und wie Er es in anderen Fälle tat. Er wandte diesmal ein äußeres Mittel an, und zwar ein scheinbar recht ausgefallenes. Aber die Absicht des Herrn war sicher, auf die Gnadenmittel hinzuweisen, mit denen er insgesamt in seiner Kirche durch ein äußeres, sinnenfälliges Zeichen seine Gnade mitteilen will; er dachte da sicher an die Sakramente, die Er einsetzen wollte als äußere Zeichen, durch die Christi Gnade hervorgebracht und bewirkt wird.

Das Bestreichen der Augen des Blindgeborenen mit Speichel und das nachfolgende Abwaschen der Augen im Teich Siloe sollte sicher ein Hinweis auf das Sakrament der Taufe sein: Wie der Blindgeborene durch diese äußeren Zeichen von der äußeren und inneren Blindheit geheilt wurde, so wird der Mensch im Sakrament der Taufe der Finsternis entrissen, von der seelischen Blindheit geheilt und durch die Glaubensgnade in das Reich des Lichtes versetzt. Wie es dem Blindgeborenen ergangen ist, als er sich im Auftrag Jesu im Wasser des Teiches Siloa wusch und sehend wurde, so erging es auch uns, als wir im Wasser der Taufe vom Schmutz der Sünde gewaschen und sehend wurden durch das Licht Christi, das Er in uns entzündete durch die heiligmachende Gnade der Gotteskindschaft, die Er uns damals schenkte.

Der geheilte, sehend gewordene Blindgeborene hat sich dann tapfer vor allen Feinden und Widersachern Jesu für Ihn, der ihn geheilt und sehend gemacht hat, eingesetzt. Dafür wurde er aus seiner bisherigen Glaubensgemeinschaft, aus der Synagoge ausgestoßen, exkommuniziert. Da heißt es nun am Schluss des heutigen Evangeliums: „Jesus hörte, dass sie ihn ausgestoßen hatten, und als Er ihn traf, sagte Er zu ihm: Du glaubst an den Menschensohn? Jener antwortete: Wer ist es denn, Herr, dass ich an ihn glaube? Jesus sagte zu ihm: Du hast ihn gesehen; der mit dir redet, der ist es!“ Dieses Christuswort erinnert ganz stark an das, was wir am vergangenen 3. Fastensonntag im Zwiegespräch zwischen Jesus und der Samariterin am Jakobsbrunnen gehört hatten. Die Samariterin hatte zuletzt in diesem ergreifenden Dialog erklärt: „Ich weiß, dass der Messias kommt, der Christus genannt wird; wenn Er kommt, wird Er uns alles offenbaren.“ Da sagte Jesus zu ihr: „Du sprichst mit Ihm: Ich bin es!“

Diesmal sagt der Herr zum sehend gewordenen Blindgeborenen ganz ähnlich auf dessen Frage, wer denn der Menschensohn sei: „Du hast ihn gesehen; der mit dir redet, der ist es!“

Und wie die Samariterin durch die Gnade des Glaubens sehend geworden war und nun an den Messias glaubte, so glaubte nun der sehend gewordene Blindgeborene an den Menschensohn Jesus Christus. Er fiel vor Jesus nieder und sprach sein Glaubensbekenntnis: „Credo ,Domine, Herr, ich glaube!“

Die Tiefe und Wirksamkeit des Glaubens, wie der Geheilte ihn bekundet, wird durch sein Verhalten angezeigt: er wirft sich vor Jesus nieder. Und dieses Sich-Niederwerfen und Niederknien vor Jesus war dabei sicher nicht bloß eine einfache Geste der Huldigung vor einem großen Menschen, sondern war Anbetung dessen, der im Glauben als der ewige, präexistente Menschensohn, als der menschgewordene Sohn Gottes, als das Licht des Lebens von ihm erkannt worden ist. Wenn wir es doch diesem geheilten Blindgeborenen nachmachen würden in dieser Zeit wachsenden Unglaubens Christus gegenüber!

Das wäre Sinn und Absicht des heutigen Sonntagsevangeliums in der Mitte der Fastenzeit:

1. Dass uns Christus wieder klar aufginge als „Licht der Welt, der jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt“. Erinnern wir uns dabei an all jene Stellen, wo Christus sich selbst Licht nennt oder so genannt wird; vor allem das Johannes Evangelium, dem ja unser heutiges Sonntagsevangelium entnommen ist, ist voll von solchen Aussprüchen.

Gleich am Anfang, im Prolog zum Johannesevangelium wird von Jesus Christus, dem menschgewordenen ewigen Wort Gottes gesagt: „In Ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Dieses Licht leuchtete in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht ergriffen“. Von Johannes d.T. heißt es dann: „Er war nicht das Licht, er sollte nur Zeugnis geben vom Lichte, das jeden Menschen, der in die Welt kommt“ - Im Bericht über den Dialog Jesu mit dem Ratsherrn Nikodemus(Joh 3,19) heißt es dann: „Darin besteht das Gericht, dass das Licht zwar in die Welt gekommen ist, aber die Menschen die Finsternis mehr liebten als das Licht; denn ihre Taten waren böse. Jeder, der Böses treibt, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden; wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht!“ - Nach der Begegnung mit der Ehebrecherin, die die Pharisäer auf frischer Tat ertappt hatten und steinigen wollten, sagt dann der Herr zu den Juden (Joh 8,12): „Ich bin das Licht der Welt! Wer mir folgt, wird nicht im Finstern tappen, sondern wird das Licht des Lebens haben!“

Nun, bei der Heilung des Blindgeborenen spricht Christus (Joh 9,5): „Solange Ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt!“ Das gibt Christus hier also als seine Aufgabe an; Solange er in der Welt ist, muss er Licht der

Welt sein durch seine erleuchtenden Worte und Belehrungen, durch seine wunderbaren Heilungen. Und selbst dann, als die Nacht des Todes über Ihn hereinbrach, die Nacht, in der niemand mehr wirken kann, da erleuchtete er diese Nacht durch das Licht seiner selbstlos sich hinopfernden Liebe und durch seinen uneingeschränkten Gehorsam gegenüber dem Willen des Vaters! Beim Gang zum Grab des Lazarus spricht Christus dann noch (Joh 11,9f) das geheimnisvolle Wort: „Hat der Tag nicht zwölf Stunden? Wenn man am hellichten Tag wandert, stößt man nicht an; man sieht das Licht dieser Welt; wenn man hingegen des Nachts wandert,stolpert man, weil man das Licht nicht in sich selber hat.“

Kurz vor seinem Gang in das Sühneleiden und —sterben sagt dann Christus noch: „Nur noch eine kleine Weile ist das Licht bei euch. Wandelt im_ Licht, solange ihr es habt, dass nicht die Finsternis euch überrasche! Wer im Finstern tappt, weiß nicht, wohin er geht. Solange ihr das Licht habt, glaubet an das Licht, damit ihr Kinder des Lichtes werdet!“

Und schließlich läßt dann Christus unmittelbar vor seinem Leiden und Sterben (bei Joh 12,44) einen ergreifenden Aufruf zum Glauben ergehen. Es heißt da im Johannes Evangelium: „Jesus aber rief mit lauter Stimme: Wer an Mich glaubt, glaubt nicht an Mich, sondern an den, der Mich gesandt hat; und wer Mich sieht, sieht den, der Mich gesandt hat! Ich bin als Licht in die Welt gekommen, damit niemand, der an mich glaubt, im Finstern bleibe.“

Christus — das Licht, das Licht der Welt, das Licht des Lebens! Glauben wir an Ihn! Lassen wir uns von Ihm erleuchten, lassen wir uns durch Ihn von aller Blindheit des Herzens heilen und werden wir wieder ganz Kinder des Lichtes!

 

2. Das ist das Zweite, das wir aus dem heutigen Sonntagsevangelium über die Heilung des Blindgeborenen in die vor uns liegende 4. Fastenwoche mitnehmen sollen:

Das gläubige Wissen darum, dass wir in der hl. Taufe gewaschen und geheilt wurden von aller seelischen Blindheit und zu Kindern des Lichtes geworden sind. Wenn wir es nicht mehr sein sollten, weil wir das Licht Christi in uns, das Licht der heiligmachenden Gnade durch schwere Sünden ausgelöscht haben, so wäre es unsere Aufgabe, in einer guten, ehrlichen Osterbeichte durch Christus das Gnadenlicht wieder neu entzünden zu lassen, die Taufgnade in uns wieder herstellen zu lassen und dann wieder als wahrhaft österliche Menschen, als Kinder des Lichtes zu leben, die nicht blind sind für die wahren Werte, auf die es letztlich allein ankommt gegenüber all jenen vergänglichen materiellen Werten, die uns oft so unsagbar wichtig vorkommen in unserer Kurzsichtigkeit und Blindheit!

 

3. Das Dritte, das wir aus dem heutigen Sonntagsevangelium mit in den Alltag der vierten Fastenwoche mitnehmen wollen: Beugen wir immer wieder anbetend und ehrfürchtig wie der geheilte, sehend gewordene Blindgeborene vor Christus unsere Knie und bekennen wir wie der sehend gewordene Blindgeborene: „Credo, Domine! Ich glaube, Herr!“ Ich will mich von diesem Glauben an Dich, das Licht der Welt, nicht abbringen lassen! Und je mehr in unserer materialistischen Zeit die Menschen vor selbstgemachten Götzen ihre Knie beugen und nicht mehr vor Dir, Herr Jesus Christus, umso mehr wollen wir vor Dir unsere Knie beugen und wollen uns unseres Glaubens nicht schämen, sondern ihn allzeitig mutig bekennen: Credo, Domine! Herr, ich glaube! Stärke meinen oft so schwachen Glauben und lass das Licht des Glaubens, das Du in mir bei der hl. Taufe entzündet hast, nie erlöschen!

Darf ich da an ein Denkmal erinnern, das mich in Lourdes immer tief beeindruckt: Auf dem Höhenweg über der Grotte der Erscheinung steht es. Es stellt den blind gewesenen und als erster in Lourdes wunderbar geheilten Steinhauer Louis Bouriette dar. Eine reiche Italienerin ließ dieses Denkmal setzen. Aus Dankbarkeit. Sie hatte nämlich in Lourdes nach Jahrzehnten des Unglaubens das Licht des Glaubens wiedergefunden und war ganz plötzlich und fast wunderbar von der seelischen Blindheit geheilt worden. In den Sockel des Denkmals ließ sie die Worte einmeißeln: „Retrouver la foi c‘est plus che retrouver la vue!“ (Den Glauben wiederfinden ist mehr als das Licht der Augen wiedererlangen!)

Ja, so ist es! Und mit dem, was der verstorbene große Kardinal - Erzbischof Michael v. Faulhaber in seinen Predigtband „Zeitrufe“ einmal erzählt hat, darf ich schließen:

 

Als Militärbischof im  1. Weltkrieg besuchte Faulhaber verschiedene Lazarette. Am meisten beeindruckte ihn das Lazarett in Tourcoing an der flandrischen Front. Dort lagen nämlich die Verwundeten mit den ausgeschossenen Augen. Faulhaber ging erschüttert von Bett zu Bett und suchte zu trösten. Da gab ihm einer der erblindeten Soldaten einen Zettel zu lesen. Auf diesem Zettel stand folgendes Gebet: „Herr, wenn du mir das Licht meiner Augen löschen willst dann lass mir wenigstens das Licht des Verstandes. Und wenn du mir das Licht meines Verstandes löschen willst, dann lass mir wenigstens das Licht meines Glaubens!“