2. Sonntag nach Weihnachten – A

gehalten am 3.1.1993

 

Vor genau 50 Jahren, um die Jahreswende von 1942 zu 1943 begann die Einkesselung der deutschen Truppen vor Stalingrad. Der Hunger, das Fehlen von allem, was zum Soldatenleben dazugehörte, die Verwundungen, die Mutlosigkeit und die Verzweiflung unserer Soldaten wurde allmählich unerträglich. Das waren furchtbare Kriegsweihnachten. Etwa 280.000 Mann der 6. deutschen Armee unter Generalfeldmarschall Paulus waren eingekesselt. 34.000 Verwundete konnten schließlich vor der Kapitulation noch ausgeflogen werden. Etwa 90.000 blieben von denen, die der Tod dahinraffte noch übrig, diese 90.000 völlig erschöpften, kranken oder verwundeten Soldaten gerieten in russische Gefangenschaft.

Nur etwa 6000 haben überlegt und sind nach Jahren in die Heimat zurückgekehrt. Und wie es einzelnen von diesen Spätheimkehrern erging, hat der deutsche Wolfgang Borchert in seinem zeitkritischen Bühnenstück "DRAUSSEN VOR DER TÜR" aufgezeigt. Es wird dabei die Irrfahrt eines Rußlandheimkehrers geschildert, der nach seiner Entlassung aus der russischen Gefangenschaft in der Heimat überall vor verschlossenen Türen stand: Seine Frau lebte mit einem anderen Mann zusammen; sie hatte die Hoffnung aufgegeben, dass ihr Ehemann je wieder heimkommen werde. In seinem Elternhaus - die Eltern waren im Krieg bei der Bombardierung ums Leben gekommen - da war eine völlig fremde Familie untergebracht. Mit einer schweren Beinverletzung, die er sich in Stalingrad zugezogen hatte, humpelte der Spätheimkehrer durch die noch kriegszerstörten Straßenviertel von Hamburg und suchte Arbeit. Aber Überall wurde er abgewiesen. Immer stand er draußen vor der Tür. Verzweifelt wollte er zuletzt Schluss machen: er stürzte sich in die Elbe. Aber auch der Fluss wollte ihn nicht. Er spie ihn wieder an Land, in das Leben zurück. Wieder stand er draußen vor der Tür.

Erschütternd ist das Schicksal dieses Menschen, der sich in dieser unserer Welt nicht mehr zurechtfand, der vollständig verzweifelte und zerbrach an der Rücksichtslosigkeit der Menschen, die ihn wie eine ausgepresste Zitronenschale auf die Straße warfen und dann zertreten ließen. Doch der letzte Grund dieses Scheiterns ist ein ganz anderer – ein religiöser! In einer schockierenden, gotteslästerlichen Szene ruft der Schriftsteller Wolfgang Borchert zuletzt Gott auf die Bühne, Gott in der Gestalt eines alten Mannes klagt in hilflosem Jammer, dass die Menschen sich gegenseitig hinschlachten und dass die Welt in allen Fugen kracht, er aber nichts mehr dagegen machen könne. Hilflos gesteht er zuletzt: „Ich kann es nicht ändern; denn ich bin der Gott, an den niemand mehr glaubt – ein unbekannter Gott!“

Der Mann „draußen vor der Tür“ zerbrach am Leben und ging unter, nicht weil seine Frau ihn betrogen hatte, nicht, weil seine Eltern im Krieg umgekommen waren und die Menschen kein Erbarmen mit ihm zeigten. Dies alles waren freilich Begleiterscheinungen einer schicksalhaften Tragik; aber der eigentliche Grund für das Scheitern dieses Menschen waren sie nicht. Der Mann „draußen vor der Tür“ zerbrach in seinem Leben, weil Gott für ihn keine Wirklichkeit mehr war, weil er seine Stimme nicht mehr hörte, weil er Gott verloren hatte, weil er nicht mehr glaubte, nicht mehr glauben konnte! Kein Wunder, dass er so den letzten Halt und die letzte Heimat verlor und die letzte Brücke abbrach. Das Schicksal dieses Stalingrad-Heimkehrers „draußen vor der Tür“ ist eigentlich ein erschütterndes Bild für die unerlöste Menschheit von einst und für die gottvergessene Menschheit unserer Tage.

Da kommt Gott selbst, um die Menschen zu erlösen… Der Sohn Gottes wird Mensch und identifiziert sich völlig mit dem Menschenschicksal, indem er Menschennatur annimmt und ein menschliches Leben lebt von der Empfängnis und Geburt in Armut und Not angefangen. Es ist ein Opfer- und Sühneleben „bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuze.“ Dazu gehört nun auch dies, dass er „draußen vor der Tür“ sein Erdenleben beginnen muss: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“. – „Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht“. – „Es war kein Platzt in der Herberge“. Wahrlich, „draußen vor der Tür“ musste das Leben des Gottmenschen beginnen, nicht bloß dazu, damit sich der menschgewordene Gottessohn ganz mit der unerlösten Menschheit identifizierte, sondern vor allem auch, damit er sie gerade dadurch erlöse und ihr so die Tür ins Vaterhaus des vergessenen und verschmähten Gottes der erbarmenden Liebe öffne: „Unseretwegen und unseres Heiles wegen ist Er (der Sohn Gottes) vom Himmel herabgestiegen, Er hat Fleisch angenommen durch den Hl. Geist aus Maria der Jungfrau und ist Mensch geworden“, uns in allem gleich, außer der Sünde, die Er, weil sie die Wurzel alles menschlichen Unheils ist, von uns nehmen wollte. Er war vom himmlischen Vater als Hoherpriester „ für die Anliegen der Menschen bei Gott bestellt, um sich als Opfer für ihre Sünden darzubringen. Dabei konnte Er mit den Unwissenden und Irrenden Mitfühlen, da Er auch selbst mit Schwachheit behaftet war“ (heb 5,11); der Verfasser des Hebräerbriefes fügt diesen seinen Feststellungen noch die Worte hinzu: „Darüber hätten wir noch viel zu sagen, und es ist nicht leicht zu erklären, da ihr schwerhörig geworden seid“ (Heb 5,11).

Geht es heute manchen Priestern nicht ganz ähnlich, wenn sie über das weihnachtliche Geheimnis der Menschwerdung und Erlösung zu sprechen haben? Viele Menschen sind schwerhörig geworden in der Zeit des materiellen Wohlstandes, schwerhörig auch und gerade dem Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung gegenüber. Gott wird mit seiner größten Liebestat vielfach ungläubig und als alter Mann abgetan, abgeschrieben… Viele tanzen nur mehr um das Goldene Kalb des Wohlstands, des Fortschritts, des Konsums und der sexuellen Lust und vergessen auf Gott und seine ergreifende Liebe: „Seinen eigenen Sohn schonte Gott (Vater) nicht, sondern gab ihn für uns alle dahin“ (Röm 8,32). „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass Er seinen eingeborenen Sohn dahingab, damit jeder, der an Ihn glaubt nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat!“ (Joh 3,16) Die Menschen aber lassen Gott und seinen menschgewordenen Sohn „draußen vor der Tür“ stehen!

„Weil sie Gott verloren haben, sind viele Menschen am Leben zerbrochen. Weil sie an ein Leben ohne Gott geglaubt haben, sind sie gescheitert“, so urteilt ein wahrhaft Weiser über das gescheiterte Leben von Menschen in seiner Umgebung in dieser unserer Zeit. Es sind Worte, die uns deutlich machen, dass ein Leben ohne Bindung an Gott zuletzt ein vertanes Leben ist, dass alle Arbeiten und Mühen des Lebens letztlich sinnlos sind, wenn dabei Gott ausgeklammert und an jenem, den der Vater im Himmel zur Rettung der Menschheit auf die Erde gesandt hat, vorbeigelebt wird.

Lassen wir Ihn nicht „draußen vor der Tür“, damit einmal nicht wir „draußen vor de Tür“ bleiben müssen in einem total gescheiterten, in Sinnlosigkeit endendem Leben! Überhören wir – bei aller weihnachtlichen Stimmung ja nicht das entscheidende Wort im Evangelium der dritten Weihnachtsmesse: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen Ihn nicht auf. Allen aber, die Ihn aufnahmen, gab Er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an Seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blute, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind“ (Joh 1,11-13). Denn es gilt, was der fromme schlesische Dichter Angelus Silesius gesagt hat: „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in Dir, du gingest doch verloren!“ Amen.