Neujahr 1984 in Meckenbeuren

 

Euer neuer Pfarrer hat mich gebeten, Euch das rechte Wort zum Beginn des neuen Jahres zu sagen, das diesmal zugleich ein „Wort zum Sonntag” sein kann, weil dieses neue Jahr 1984 mit einem Sonntag beginnt. Man hat nun dieses neue Jahr vielfach als ein “ominöses Jahr“ bezeichnet. Warum? Weil da vor 35 Jahren der englische Schriftsteller George Orwell, früher Anhänger der kommunistischen Internationale, einen Roman herausgebracht hat, dessen Titel nur aus der Jahrzahl 1984 bestand. Darin hat nun dieser ehemalige Kommunist wie ein kluger Futurologe gar manches für unsere Zeit richtig vorausgesehen: Es werde staatlicherseits - wenn man sich in der Politik nicht an die gesunden demokratischen Spielregeln hält -  zu einer totalen Reglementierung des menschlichen Zusammenlebens kommen, das erfüllt sein werde von Unterdrückung und Knechtung, Bespitzelung und Überwachung aller bis hinein in die Intimsphäre durch die herrschende Klasse. Gott sei Dank ist nicht alles, was in diesem utopischen Roman vorausgesagt wurde, in diesem Jahr 1984 eingetreten, aber die Gefahr ist groß, dass es so werden könnte. Wir haben auf moralischem, rechtlichem und politischem Gebiet unbedingt die Grenzen zu beachten, die uns Menschen gezogen sind bei allem, was uns nun auf Grund des Fortschritts auf technischem und biologisch— medizinischem Gebiet machbar und manipulierbar geworden ist. Der Fortschritt darf nicht wie ein blindes Schicksal nach Art eines Damoklesschwertes über uns Menschen hängen, wir dürfen nicht auf unsere Freiheit und Selbstverantwortung verzichten und müssen dabei immer bedenken, dass letztlich Gott der Herr der Geschichte bleiben muss: Er ist - das hat Mister Orwell in seinem Roman 1984 übersehen - letztlich der Mächtigere, der in seiner weisen Vorsehung sogar gegen alles Planen der Menschen alles zu unserem Besten lenken kann. Ihm muss alles dienen. Auch die gottwidrigen Mächte und Gewalten müssen zuletzt Gott dem Herrn zur Verwirklichung seines Planes mit der Welt und der Menschheit dienen. Darum sollten wir uns zu Beginn des neuen Jahres 1984 nicht einer pessimistischen Katastrophenstimmung hingeben und das Jahr 1984 nicht im voraus zu einem apokalyptischen Jahr, zu einem ominösen Jahr im negativen Sinn abstempeln. Wir sollten viel mehr vertrauensvoll alles tun, was auch dieses ominöse Jahr 1984 zu einem gesegneten Jahr des Heiles machen kann. Unser deutsches Wort „ominös“ kommt vom lateinischen Hauptwort „omen“, das Vorzeichen bedeutet. Für mich ist es nun ein gutes „omen“, ein gutes Vorzeichen, dass dieses Jahr 1984 mit einem Sonntag, mit dem Tag des Herrn, beginnt. Wenn dieses neue Jahr mit einem Sonntag, mit dem Tag des Herrn, beginnt, so sollten wir zu allererst darauf bedacht sein, dass dieser Herr, dem der erste Tag der Woche und diesmal auch der erste Tag des neuen Jahres geweiht ist, zum Jahresregenten gemacht wird durch unerschütterlich, vertrauensvollen Glauben, dann wird dieses neue Jahr 1984 zu einem ominösen Jahr im positiven Sinn, zu einem Gott, dem Herrn, geweihten und von Ihm gesegneten Jahr. Auf den unerschütterlich vertrauensvollen Gottesglauben, den wir in dieses neue Jahr 1984 mitnehmen, käme es also vor allem an. Was aber heißt denn das eigentlich: An Gott glauben? Da geht es um die Bereitschaft des Menschen Gott gegenüber, auf Ihn zu hören und Ihm dann zu gehören, auf Ihn zu horchen und Ihm dann zu gehorchen. Es geht beim Gottesglauben letztlich um die Ganzhingabe des Menschen an Gott mit Verstand und Wille und Herz: Gott spricht zu uns Menschen sein offenbarendes, richtungweisendes Wort, wir Menschen aber gehen darauf im Glauben die zustimmende Antwort: „Ja, so ist es, wie Du, o Gott, uns Menschen sagst, so muss es sein, auch wenn wir es nicht begreifen und verstehen und einsehen, denn Du, o Gott, mit Deiner Allmacht und Allwissenheit, mit Deiner Wahrhaftigkeit und Treue garantierst uns Menschen dafür, dass es so ist, wie Du sagst, und dass Du erfüllst, was Du verheißen hast. Wir vertrauen Dir, wir glauben, und wir wollen dieses gläubige Ja Dir gegenüber unter Beweis stellen durch unser ganzes Leben, auch in diesem neuen Jahr und alle Jahre unseres Lebens!“ Mit Recht hat man im Anschluss an das hebräische Wort für Glauben, das „aman“ lautet, wovon auch das uns geläufige „Amen“ stammt, gesagt: Glauben ist nichts anderes als zu etwas Amen sagen mit allen Konsequenzen, Glauben ist das menschliche Amen zu Gott gegen alle Bedrohung durch die Nächte der Welt und durch die eigene Bosheit und Erbärmlichkeit. Der Glaube, so gesehen, wächst zusammen aus Vertrauen, Hoffnung und Gehorsam und schafft einen Zustand innerer Sicherheit, in welchem Gott als Gott ganz ernst genommen wird.

Im Glaubensakt steckt viel mehr, als die meisten Menschen oberflächlich meinen und vermuten. Das hat uns der große Gottesgelehrte des Mittelalters Thomas v. Aquin sehr tief gezeigt, wenn er in seiner Summa Theologiae II/II,2,2 den Glaubensakt des Menschen vom Objekt her analysierte und erklärte, wie mit dem lateinischen Wort für Glauben „credo“ grammatikalisch Gott dreifach verbunden werden kann: „Credo Deo, credo Deum, credo in Deum“:

 

1.    Ich glaube wem? Credo Deo! Ich glaube dem allwissenden, wahrhaftigen, in unverbrüchlicher Treue zu seinen Verheißungen stehenden Gott, ich vertraue Ihm denn keiner ist so glaubwürdig und so vertrauenswürdig wie Er. Und wo ich dem besten und liebsten Menschen immer noch misstrauen kann, da steht Gott als der vor mir, dem absolute Glaubwürdigkeit zukommt und der nicht das geringste Misstrauen meinerseits verdient, denn Er kann nicht irren und nicht irreführen, Er meint es überdies immer unendlich gut mit mir, Er hat es gezeigt und bewiesen in der ganzen Heilsgeschichte...  Glaube ist also Vertrauen auf Gott und das Festhalten an Ihm, an seinem Wort, an seinem Gesetz, an seiner Verheißung, entgegen aller gegenteiligen Erfahrung.

2.    Ich glaube wen oder was? Credo Deum, ich glaube Gott, Er ist der erste Gegenstand meines Glaubens, Er ist die erste Wirklichkeit hinter aller Wirklichkeit: Das, was ich mit meinen Sinnen und meinem Verstand sehen, hören, greifen, begreifen kann, ist nicht die ganze Wirklichkeit, im Gegenteil, der unsichtbare Gott und das, was er geoffenhart hat, ist „das eigentlich Wirkliche, das alle übrige Wirklichkeit Tragende und Ermöglichende“. Auch hinter allen Heilswahrheiten, die die Kirche im Auftrag Gottes und unter dem Beistand des Geistes der Wahrheit zu künden hat, steht immer Gott, der da die Wahrheit selber ist. Ich glaube Ihn in seinem Dasein und Sosein.

3.     Ich glaube wohin? Credo in Deum, ich glaube in Gott hinein, in dieses Meer unendlicher Fülle von Wahrheit, Gutheit, Schönheit, und ich will mich mit meinem ganzen Sein und Wesen, mit Verstand und Wille und Herz hineinbegeben, hineinversenken in dieses Meer, nicht etwa um darin auszulöschen und aufzuhören, sondern nur um im Meer der Größe und Weite der Wahrheit, Gutheit und Schönheit Gottes geborgen zu sein in meiner Kleinheit und um so in Gott und durch Gott zu wahrer Größe zu kommen. Credo in Deum heißt also: Ich will über die eigene Enge und Begrenztheit mutig hinwegschreiten, hinein in das Meer der Liebe Gottes und will darauf, auch in diesem neuen Jahr mein Leben gründen. Dabei mag es mir ergehen wie dem Petrus, der so kühn das Boot verlassen hat, um dem Herrn über die Wogen des stürmischen Sees entgegenzuschreiten. Es mag dann manchmal scheinen, als würde ich sinken und versinken, weil ich im Glauben das Boot der eigenen Selbstsicherheit und Selbstherrlichkeit verlassen und mich den Wogen von „Ungewissheit und Wagnis“ überlassen habe, aber solange ich dem Herrn vertrauensvoll entgegenschreite, der mir seine Hand entgegenstreckt, kann ich nicht sinken und versinken.

 

„Credo Deo, credo Deum, credo in Deum“, ich glaube und vertraue Gott, ich glaube Ihn, sein Dasein und sein Sosein in unendlicher Fülle und Vollkommenheit, ich glaube in Gott hinein, ich übergebe mich ganz und gar Gott und will auf Ihn hören. Der Glaube kommt vom Hören (Röm 10,17) - und will Ihm ganz gehören, will auf Ihn horchen und Ihm gehorchen. Wo der Glaubensakt, voll und ganzheitlich in seiner biblischen Fülle gesehen, wirklich ernst genommen und verwirklicht wird als Hingabe und Übergabe des kleinen Menschen an den unendlich großen Gott, dort bleibt der Glaube wohl ein Risiko und ein Wagnis des Nichtsehens und Noch-nicht-Verstehens, aber es gilt dann das „Selig, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20,29) und es wächst in einem solchen Menschen - die Heiligen sind der beste Beweis dafür - eine staunenswerte Kraft, so dass Christus selber sagen konnte: „Dem, der glaubt, ist alles möglich!“(Mk 9,28)

Jetzt käme es nur bei all unserem Planen und Schaffen, Sorgen und Arbeiten darauf an, wirklich Gott an die erste Stelle zu setzen.

Dafür könnte uns an diesem ersten Tag des Herrn in diesem neuen Jahr das Gebet des Herrn die rechte Anleitung geben. In den sieben Bitten des Vater unser steht nämlich nicht die Brotbitte „Gib uns heute unser tägliches Brot“ mit all den Sorgen um unser leiblich Wohl am Anfang und im Vordergrund, aber auch nicht der Kummer um die Schuld, die wir etwa auf uns geladen, und um die Versuchung, in die wir hineingeraten sind, sondern die Besorgtheit um das dreifache Anliegen Gottes, dass sein Name geheiligt werde, dass sein Reich zu uns komme, und dass seine Wille geschehe wie im Himmel‚ so auf Erden. Wenn wir uns aus lebendigem und vertrauensvollem Glauben an diese Rangordnung halten, zuerst Gott und seine Ehre, zuerst Gott und sein Reich, zuerst Gott und die Erfüllung seines Willens, dann wird Gott uns in der Sorge um das leibliche Wohlergehen nicht im Stiche lassen und dann wird Gott uns immer wieder die Schuld, die wir auf uns geladen haben, vergeben und verzeihen, sofern wir selber bereit sind, dem der uns beleidigt hat, zu vergehen...

Nehmt, liebe Brüder und Schwestern, dieses „Wort zum Sonntag“, zum Tag des Herrn, als eine Aufforderung mit in dieses neue, positiv ominöse Jahr 1984 mit zu lebendigem, vertrauensvollem Glauben an Gott, der von uns allen erwartet, dass wir uns zu allererst um seine Ehre sorgen im Gebet, im Gottesdienst, vor allem am Sonntag, in der guten Meinung, alles zu Gottes Ehre zu tun in der Erfüllung der Berufsarbeit, und dass wir uns kümmern um das Wachsen des Reiches Gottes im eigenen Herzen, in der eigenen Familie und Gemeinde und in der weiten Welt, und dass wir durch Treue gegen Gottes Gebote immer darauf bedacht sind, Gottes Willen  zu erfüllen, weil er es immer gut mit uns meint und nur unser Bestes will.

Bei solch gläubiger Haltung unsererseits wird Gott sicher im neuen Jahr wieder seinen Segen geben. Das aber ist der Neujahrswunsch der Kirche für uns alle und für jeden von uns: „Der Herr segne dich und behüte dich! Der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig! Der Herr wende dir sein Angesicht zu und gewähre dir Heil!“ Amen.

 

(In einer Großstadt brach eines Tages ein Brand aus. Eines der größten Warenhäuser stand im Nu in Flammen. Schon waren die untersten Stockwerke zerstört. Ängstlich rannten die Warenhausbesucher durch die Gänge, darunter auch eine Familie, die auseinandergerissen worden war im allgemeinen Durcheinander. - Schließlich traf sich die Familie doch vor dem Warenhaus. Aber der fünfjährige Sohn fehlte. Im Augenblick der Flucht war er nicht nach unten gerannt, sondern den Rauchschwaden ausgewichen, nach oben. Es war aber für den Vater dieses Buben keine Möglichkeit mehr, das Warenhaus aufs neue zu betreten. Da öffnete sich oben ein Fenster. Der Bub schrie. Sein Vater erkannte den Schrei und entdeckte ihn und rief hinauf: “Gerhard, spring ruhig herunter, ich fange dich schon auf!“ Das Kind aber sah die schreckliche Tiefe und den Rauch und die Flammen. Es hörte zwar die Stimme des Vaters, sah ihn aber nicht. Erschreckt rief der Bub: „Vater, ich sehe dich ja nicht!“ Darauf der Vater: „Aber ich sehe dich, das genügt doch. Komm und spring!“ Der Bub sprang und fiel heil in die Arme seines Vaters. Wir können am Beginn des neuen Jahres 1984 uns allen nur wünschen, dass wir immer wieder Gott sagen hören: „Ich sehe dich, das genügt, komm, spring!“ Wir dürfen sicher sein, dass wir nicht ins Leere fallen, sondern in die Hände Gottes.