Maria im Glauben der getrennten Christen

Aufschauen zu dem großen Zeichen, das - gemäß der Vision des Apostels Johannes - am Himmel erschienen ist in Maria, der Mutter der Kirche und dem Typus der Kirche, das war am Schluß meiner Predigt vorgestern die Aufforderung, die ich an Euch, Brüder und Schwestern in Christus, gerichtet habe. Das ist auch die Aufforderung des Konzils, das am Schluss seiner kostbaren dogmatischen Konstitution über die Kirche (Nr. 67)", alle Kinder der Kirche ermahnt, die Verehrung (vor allem die liturgische Verehrung) der seligen Jungfrau Maria) großmütig zu fördern, die Gebräuche und Übungen der Andacht zu ihr, die im Laufe der Jahrhunderte vom kirchlichen Lehramt empfohlen wurden, hochzuschätzen und das, was in früherer Zeit über die Verehrung der seligen Jungfrau festgesetzt wurde, ehrfürchtig zu bewahren. Die Theologen und die Prediger des Gotteswortes aber ermahnt das Konzil eindringlich, sich ebenso jeder falschen Übertreibung wie zu großer Geistesenge bei der Betrachtung der einzigartigen Würde der Gottesmutter sorgfältig zu enthalten. „... Sorgfältig sollen sie vermeiden, was in Wort, Schrift oder Tat die getrennten Brüder oder jemand anderen bezüglich der wahren Lehre der Kirche (über Maria) in Irrtum führen könnte. Die Gläubigen aber sollen eingedenk sein, dass die wahre Andacht (zu Maria) weder in unfruchtbarem und vorübergehendem Gefühl noch in irgendwelcher Leichtgläubigkeit besteht, sondern aus dem wahren Glauben hervorgeht, durch den wir zur Anerkennung der Erhabenheit der Gottesmutter geführt und zur kindlichen Liebe zu unserer Mutter und zur Nachahmung ihrer Tugenden angetrieben werden."

In diesem vielsagenden Wort des II. Vatikanischen Konzils ist also von den getrennten Brüdern die Rede, die wir durch ungute und ungesunde Übertreibung in der Marienverehrung sowie durch Leichtgläubigkeit und Wundersucht, was etwa Marienerscheinungen betrifft, nicht vor den Kopf stoßen sollen, denen gegenüber wir aber anderseits unseren Glauben an die Erhabenheit der jungfräulichen Gottesmutter und unsere Liebe zu ihr nicht feige verstecken sollen aus angeblicher ökumenischer Haltung heraus.

Wie stehen denn die getrennten Christen zu Maria, was denken sie über Maria, was glauben sie von ihr? "Maria im Glauben der getrennten Christen", das soll das Thema dieser vorletzten Maipredigt sein.

Nochmals möchte ich da zuerst das II. Vatikanische Konzil sprechen lassen. Im 15. Artikel der Kirchenkonstitution sagt das Konzil aus echter ökumenischer Haltung: "Mit denen, die durch die Taufe der Ehre des Christennamens teilhaft sind, den vollen Glauben aber nicht bekennen oder die Einheit der Gemeinschaft unter dem Nachfolger Petri nicht wahren, weiß sich die Kirche doch aus mehrfachem Grunde verbunden. Viele von ihnen halten nämlich die Hl. Schrift als Glaubens- und Lebensnorm in Ehren, zeigen einen aufrichtigen religiösen Eifer, glauben in Liebe an Gott, den allmächtigen Vater, und an Christus, den Sohn Gottes und Erlöser, sie empfangen das Zeichen der Taufe, durch das sie mit Christus verbunden werden; ja, sie anerkennen und empfangen auch andere Sakramente in ihren eigenen Kirchen oder kirchlichen Gemeinschaften. Mehrere unter ihnen besitzen auch einen (gültig geweihten) Episkopat, feiern die hl. Eucharistie und pflegen die Verehrung der jungfräulichen Gottesmutter."

Von dieser Tatsache, dass gar manche getrennten Christen die Verehrung der jungfräulichen Gottesmutter pflegen, spricht das Konzil im gleichen Dokument (KK Nr.69) noch einmal mit den Worten: "Dem Konzil bereitet es große Freude und Trost, dass auch unter den getrennten Brüdern solche nicht fehlen, die der Mutter des Herrn die gebührende Ehre erweisen, dies besonders unter den Orientalen, die sich zur Verehrung der allzeit jungfräulichen Gottesmutter mit glühendem Eifer und andächtiger Gesinnung vereinen". Von den getrennten Christen des     Ostens, den Orthodoxen, sagt das Konzil überdies im Artikel 15 des Ökumenismusdekretes: "In ihrem liturgischen Kult preisen die Orientalen mit herrlichen Hymnen Maria, die allzeit Jungfräuliche, die das Ökumenische Konzil von Ephesus feierlich als heilige Gottesgebärerin verkündet hat..."

Ja, wer auch nur eine ganz bescheidene Ahnung hat von der liturgischen und außerliturgischen Frömmigkeit der orthodoxen Christen Griechenlands und Russlands, des Nahen Ostens, Ägyptens und Abessiniens, der weiß, wie bei diesen unseren getrennten Brüdern des Ostens Maria noch viel viel mehr verehrt wird als bei uns Katholiken. Und man tut wahrlich den Bestrebungen für die Wiedervereinigung der westlichen und der östlichen Christenheit keinen guten, sondern einen sehr schlechten Dienst, wenn heute manche Theologen und Seelsorger darauf aus sind, die Marienverehrung möglichst zurückzudrängen und abzubauen und Mariendogmen, wie die Gottesmutterschaft Mariens und ihre immerwährende Jungfräulichkeit und makellose Heiligkeit zu bestreiten und zu bezweifeln. Dafür haben die orthodoxen Christen des Ostens kein Verständnis. Sie lieben die Panhagía, die Ganzheilige, die Theotókos, die Gottesgebärerin, die Aéi-parthénos, die Immerjungfrau ganz innig und verehren sie in wundertätigen Ikonen und in fast zahllosen, zu ihrer Ehre erbauten Kirchen und sie feiern Feste Mariens viel öfter als wird. Und unsere Marienfeste haben erst allmählich aus dem Osten ihren Eingang bei uns gefunden.

"Gegrüßt seist du, unsere Zierde, unsere Ehre! Gegrüßt seist du, Krone unseres Ruhmes!" Diese schlichten Verse eines unbekannten äthiopischen Dichters auf Maria leuchten wie ein Symbol: Die Ostkirche ist die Geburtsstätte aller Marienverehrung und sie hat stets ihre besondere Ehre dareingesetzt, dass ihr in der Liebe und Verehrung Mariens niemand die Palme streitig machen dürfe!

Wie aber steht es bei den getrennten Christen des Abendlandes, bei den Protestanten mit der Marienverehrung? Im Religionsunterricht der Volksschule ist uns einst beigebracht worden, dass die Protestanten die Marienverehrung nicht kennen, sondern umgekehrt uns Katholiken den Vorwurf machen, dass wir Maria anbeten. Stimmt das? Von Marienanbetung kann bei uns Katholiken selbstverständlich keine Rede sein. Wir wissen genau so gut wie jeder Protestant, dass nur Gott der Schöpfer und der menschgewordene Sohn Gottes angebetet werden dürfen und dass  Maria nur Geschöpf ist wie wir alle. Dieser falsche Vorwurf der Marienanbetung atü ist heute Gott sei Dank auf protestantischen Zungen doch fast zur Gänze verstummt. Aber stimmt nun etwa umgekehrt unser Vorwurf, den wir den Protestanten machen, dass sie keine Marienverehrung kennen? Auch da können wir Gott sei Dank weithin mit einem Nein antworten. Über Luther selbst schreibt der protestantische Theologe Walter Delius in seiner Geschichte der Marienverehrung (München 1963, S.206): "Innerhalb der Heiligenverehrung des Mittelalters nimmt Maria den ersten Platz ein. Auch bei Luther ist dies der Fall gewesen. Während er sich allmählich von der Verehrung der Heiligen gelöst hat, hat er doch Maria bis an sein Lebensende Verehrung entgegengebracht.“ Und Eduard Stakemeier, ein katholischer Fachmann für ökumenische Theologie (De beata Maria Virgine ejusque cultu juxta Reformatores, Rom 1962 S. 449),schreibt: "Martin Luther hat die Lehre von der Gottesmutterschaft Mariens und ihrer immerwährenden Jungfräulichkeit durch sein ganzes Leben bekannt und verteidigt... Die Würde der Gottesmutter... und ihre beispielhaften Tugenden (wie Glaube und Demut) hat er das ganze Leben hindurch gerühmt." Luther war also Marienverehrer und blieb es zeitlebens; trotzdem wurde nach ihm in den folgenden Jahrhunderten die Marienverehrung innerhalb des Protestantismus immer schwächer und geringer und es sind auch heute leider noch viele Protestanten - ganz im Gegensatz zu Luther - der Marienverehrung gegenüber sehr zurückhaltend oder sogar ganz negativ eingestellt. Und doch mehren sich die Stimmen auch im Protestantismus, die mit dem vor kurzem verstorbenen evangelischen Propst Hans Asmussen bekennen: "Man hat Jesus Christus nicht ohne Maria! Man kann nicht nach Christus fragen, ohne seine Mutter ins Auge zu fassen!"

Der lutherische Altbischof Wilhelm Stählin, der in Rimsting am Chiemsee lebt und mehrmals in Salzburg bei den Hochschulwochen über theologische Fragen gesprochen hat, er hat in einem Aufsatz "Maria, die Mutter des Herrn, ihr biblisches Bild" (Sammlung "Symbolon", Stuttgart 1958) herrliche Gedanken zur biblischen Grundlegung der Marienkunde und Marienverehrung niedergeschrieben, um den Raum abzustecken, "der uns evangelischen Christen vergönnt ist, um unsere Liebe und Verehrung für die jungfräuliche Mutter des Herrn in unseren Herzen und auf unseren Lippen zu tragen. Dieser Raum ist größer und weiter, als viele von uns es geahnt haben..."

Ganz ähnlich dachte auch der lutherische Landesbischof Hanns Lilje von Hannover. Er schrieb in dem von ihm herausgegebenen "Sonntagsblatt": "Wir knien mit den Hirten von Bethlehem anbetend nieder vor dem Sohn Mariens, und, indem wir dies tun, darf nicht nur, sondern muss unser Blick auch die Mutter des Heilands suchen, ja, unser Herz wird bewegt, sie zu lieben. Das ist gewiss, dass es für uns (evangelische Christen) neben Christus dem Herrn keine Miterlöserin geben kann. Aber wir lieben und preisen Maria als die Begnadete, mit der der Herr ist, und wollen von ihr nicht geringer denken als der göttliche Bote Gabriel es tat. Es wäre ja Ungehorsam und Undank gegen Gott und die wunderbaren Wege seiner Offenbarung. Wir schauen die Demut und den Glauben an, womit Maria sich dem Willen Gottes anvertraut hat: "Mir geschehe nach deinem Wort!" Wie Maria wollen auch wir sprechen und denken." – Ein herrliches Wort eines protestantischen Theologen. „Wie Maria wollen auch wir sprechen und denken", damit haben Ernst gemacht evangelische Christinnen, die sich vor Jahrzehnten schon in Wiesbaden als Marienschwestern zu einer Ordensgemeinschaft zusammenschlossen, um unter dem Schutz Mariens für die Wiedervereinigung der getrennten Christenheit zu beten, zu sühnen zu arbeiten... Vorbildlich arbeitet in dieser Hinsicht Mutter Basilea Schlink.

Ja, wahrlich, wenn sich alle Christen, die katholischen, die orthodoxen, die protestantischen, darum bemühen würden, im Geiste und in der Gesinnung Mariens jenen Auftrag auszuführen, den Maria bei der Hochzeit zu Kana den Jüngern erteilt hat mit den Worten: "Alles, was Er (Christus) euch sagt, das tut", dann kämen alle Christen nicht nur zu einer kindlich warmen Marienverehrung, wie Christus sie uns selber vorgemacht hat, sondern kämen auch, geführt von der Mutterhand Mariens, zur wahren Einheit, wie sie die junge Kirche offenbarte, von der es in der Apg 1,14 heißt: "Alle verharrten einmütig im Gebet mit Maria, der Mutter Jesu und mit seinen Brüdern". Amen.